The Great Brain Robbery

Mentale Fitness im Zeitalter der künstlichen Besserwisser

Worum geht’s?
Der Newsletter besteht aus zwei Teilen:

Teil 1 – Future Skill:
Mentale Eigenständigkeit – warum dein Denken wertvoller wird, je besser die KI wird.

Teil 2 – KI Skill:
Prompt-Ownership – wie du Prompts schreibst, die auf deinem Denken basieren, nicht auf Autopilot.

Es war ein ganz normaler Morgen. Kaffee in der Hand. Ich wollte Ben, meinem Mann, begeistert von meinem neuen Blogartikel erzählen.

"Worum geht's?" fragte er.

Ich öffnete den Mund – und nichts kommt. Kein roter Faden. Kein Gedanke, der sich nach mir anfühlt. Dabei hatte ich den Artikel selbst geschrieben.
Oder besser: Die KI hatte ihn für mich geschrieben, während ich Wichtiges tat. Zum Beispiel zusehen, wie die KI einen Artikel schreibt.

Er klang nach mir. Las sich gut. Aber irgendwie... leer. Fremd. Ich fühlte mich wie ein Hochstapler in meinem eigenen Gehirn.

Ein paar Tage später hatte ChatGPT einen Serverausfall.

Zehn Sekunden später: Schnappatmung. Wie beim ersten Mal Eisbaden.
Zum Glück sprangen Claude und Gemini gleich ein. Digitale Rettungsschwimmer. Alles wieder gut. Mhm…

Ehrlich gesagt, der Moment war bezeichnend. Ich dachte nicht etwa: „Super, endlich selbst denken!"“ Nein. Ich suchte hektisch nach Ersatz-Gehirnen.

Wie absurd.

Ich nenne es The Great Brain Robbery – den großen Gehirnraub unserer Zeit. Erst delegieren wir das Denken, dann vergessen wir, dass wir es je konnten.

U-Bahn im Münchner Hauptbahnhof (Photo: Steffi Kieffer)

Rolltreppe fürs Gehirn

Ein paar Tage später, Münchner U-Bahn. Ich beobachte die Menschen. 98% nahmen die Rolltreppe.

Ich selbst steuerte wie immer die Treppe an – nicht weil ich es liebe (ehrlich, wer tut das?), sondern aus purer Selbsterhaltung.

Und da hat es klick gemacht: KI ist die Rolltreppe für unser Gehirn.
Bequem, schnell, aber langfristig: geistige Muskelatrophie.

Use it or lose it.

Microsoft hat es inzwischen schwarz auf weiß: Bei intensiver KI-Nutzung nimmt unsere Fähigkeit zum kritischen Denken messbar ab. Wir werden – Überraschung! – dümmer.

(Kleine Anmerkung: Ich weiß, dass Treppensteigen ein Privileg ist. Für viele ist die Rolltreppe keine Option, sondern die einzige Möglichkeit nach oben.)

Zwei Wege. Eine Entscheidung.

Die Rolltreppen-Strategie:
Du fragst die KI bei allem und jedem. Denken später. Wenn überhaupt.

Die Treppen-Strategie:
Du denkst zuerst selbst. Stellst Hypothesen auf. Hinterfragst. Nutzt KI als Erweiterung deines Denkens, nicht als Ersatz.

Kurzfristig langsamer. Langfristig unschlagbar. Du trainierst dein Hirn und nutzt KI als Sparring Partner, nicht als Krücke.

Die 2-Minuten-Rebellion

Seit jenem Kaffeemoment schreibe ich jeden Tag. Handschriftlich. 2 bis 20 Minuten. Meine persönliche Rebellion gegen kognitive Faulheit.

Warum?
Weil Paul Graham recht hat:

"Writing is thinking."

Paul Graham

Der Stift zwingt mich zum Denken. Durch handschriftliches Notieren werden neuronale Verbindungen aktiviert, die beim reinen Tippen nicht entstehen.

Und plötzlich kommen Gedanken, die sich echt anfühlen. Kein Algorithmus. Nur ich. Und ein verdammt guter Kaffee.

KI Skill: Prompt-Ownership

Vom passiven Konsumenten zum echten Mitdenker

Option A: Rolltreppen-Modus

Stell dir vor, du möchtest mehr über das Thema “Neuroplastizität” herausfinden. Du fragst ChatGPT nach einer kurzen Erklärung:

Erkläre mir das Konzept der Neuroplastizität und warum es wichtig ist.

Du scannst die Ergebnisse. Die Antwort klingt plausibel. Fertig.

Option B: Treppen-Modus - der 2-Minuten-Hack

Gleiche Situation. Bloß diesmal greifst du zuerst zu Stift und Papier und beantwortest dir selbst kurz folgende Fragen - handschriftlich:

  1. Was weiß ich bereits über dieses Thema?

  2. Welche Annahmen treffe ich?

  3. Welche Fragen habe ich dazu?

Erst dann formulierst du deinen Prompt – und zwar strukturiert. Am besten mit Überschriften für die einzelnen Abschnitte:

KONTEXT: 

Ich verstehe, dass Neuroplastizität mit der Fähigkeit des Gehirns zusammenhängt, ein Leben lang neue Verbindungen zu bilden. Mich interessiert besonders, wie dies auf das Erlernen neuer Fähigkeiten im Erwachsenenalter anwendbar ist.

ANWEISUNG:

Erkläre, wie Neuroplastizität auf zellulärer Ebene funktioniert, und liefere konkrete Belege dafür, wie Erwachsene sie für das Erlernen komplexer Fähigkeiten nach dem 40. Lebensjahr nutzen können.

FORMAT: 

Erkläre zuerst den Mechanismus einfach, nenne dann 3 evidenzbasierte Anwendungen und schließe mit der überraschendsten Forschungserkenntnis auf diesem Gebiet.

Der Ownership-Test:

Eine Stunde später: Versuche, beide Ergebnisse jemandem zu erklären. Bei welchem fühlst du dich wie du selbst – und nicht wie ein Sprachrohr der KI?

Neuroplastizität in Aktion

Was beim 2-Minuten-Hack passiert, ist selbst ein perfektes Beispiel für Neuroplastizität:

Die kurze Denkpause aktiviert dein Gehirn und schafft neue Verbindungen. Wenn die KI-Antwort kommt, landet sie nicht isoliert als Fremdkörper in deinem Kopf, sondern dockt an dein bestehendes Wissens-Netzwerk an.

Viel Spaß beim Ausprobieren!

Mit rebellischen Grüßen,

Steffi

PS: Dieser Newsletter entstand mit Hirn, Herz und definitiv mehr als drei Tassen Kaffee. Die KI wollte unbedingt Emojis und „virale Hacks" ergänzen. Ich habe höflich abgelehnt und stattdessen noch eine echte Treppe genommen… 

Nächste Woche: Wie du deinen Fokus zurückholst, wenn KI dich dauernd woanders hinschicken will.

PPS: Leite meinen Newsletter gerne weiter und spread some love. Das würde mich echt freuen.